4. Kapitel

Ich lief. Ich lief und lief, stundenlang. Jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild zufällig in einem Schaufenster sah, wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Es war entsetzlich. Ich hatte kein Geld, aber aus der Wohnung dieser netten Frau hatte ich auch nichts stehlen wollen. Als Erstes machte ich mich auf den Weg zu meinem Büro am »Strand« und lief den ganzen Weg von Maida Vale zu Fuß. Dort angekommen ging ich zum Empfang.

Halt, stopp. Hier stimmte doch was nicht. Am Empfang stand der gleiche Wachmann, den ich in den letzten elf Jahren jeden Morgen dort gesehen hatte. Und er sah keinen Tag jünger aus. Es schien also, als sei ich ganz allein in diesem Albtraum gefangen. Von meinen Eltern mal abgesehen. Was die ganze Sache erst recht zu einem Albtraum machte. O Herr im Himmel.

»Hey, Jimmy«, sagte ich zu dem Wachmann, genau wie ich es die letzten elf Jahre auch immer getan hatte.

Er musterte mich misstrauisch. »Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?«

Eigentlich hatte ich Hunger - einen Bärenhunger. Ich hatte das Frühstück eigentlich immer ausfallen lassen, aber augenblicklich war ich so hungrig wie seit Jahren nicht mehr. Ich hätte ihn am liebsten gebeten, mir ein Sandwich zu besorgen, aber ich hatte hier was Wichtigeres zu erledigen.

»Könnten Sie mich bitte mit Flora Scurrison verbinden?«, fragte ich. Sogar meine Stimme klang so lächerlich hoch und schrill.

»Mit wem?«, fragte er barsch. Diese Unfreundlichkeit war mir vorher auch schon aufgefallen. Zugegeben, ich sah ein bisschen abgerissen aus, aber er beäugte mich so, als wäre ich ein ärgerlicher Störenfried. War das damals, als ich sechzehn war, auch schon so gewesen? Ich wusste es nicht. Vielleicht war es mir nicht aufgefallen, weil ich damals zu sehr mit mir selbst beschäftigt war.

»S-C-U-R-R-I-S-O-N.«

Er schüttelte den Kopf. »Hier arbeitet niemand, der so heißt, Herzchen. Bist du dir sicher, dass du hier richtig bist?«

Irgendwie hatte ich ja schon damit gerechnet, aber trotzdem traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Auf dem Weg hierher war ich mit meinen Kontodaten in eine Bank gegangen. Ergebnislos. Aber wenigstens meine größte Angst - mir selbst über den Weg zu laufen - schien sich nicht zu bewahrheiten, zumindest bisher nicht.

»Solltest du nicht in der Schule sein?«

Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass Jimmy eine Tochter hatte, so ungefähr ... ähm, in meinem Alter.

»Wahrscheinlich schon«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Grüßen Sie Jinty von mir.«

»Was? Bist du eine Freundin von ihr?«

Nein. Momentan hatte ich, soweit ich es überblicken konnte, buchstäblich keinen einzigen Freund auf der Welt. Ich hatte aufgehört zu existieren. Ich war niemand. Während alle anderen, Jinty eingeschlossen, unbeirrt ihr Leben weiterlebten.

Beim Hinausgehen wäre ich fast mit meinem Boss zusammengestoßen, Karl Dean, einem verbitterten, von üblem Mundgeruch geplagten Mann mit einer völlig engstirnigen Weltsicht, die zwar für einen Buchhalter sehr vorteilhaft war, aber ihm und allen, die sich ihm bis auf einen Meter näherten, das Leben zur Hölle machte. Ohne mit der Wimper zu zucken, sah er mich an. Nicht ein Schimmer des Erkennens blitzte in seinen Augen auf. Und er schaute mich auch nicht an, als erinnerte ich ihn an jemanden, den er kannte, von dem er aber augenblicklich nicht wusste, wo er ihn hinstecken sollte.

Neben ihm stand noch jemand, und das hätte ich sein können, aber ich war es nicht. Es war die Frau aus meiner Wohnung. Sie wirkte nervös und spielte an ihrer Brille herum.

»Soll heißen«, sagte er gerade, »Sie müssen dafür sorgen, dass alles stimmt. Sie sind dafür verantwortlich. Sie schaden damit nicht nur der Firma, Sie schaden auch sich selbst. Sie haben noch einen langen Berufsweg vor sich, und den wollen Sie doch erfolgreich beschreiten.«

»Ja, Sir«, sagte die Frau. Aber genau in dem Augenblick, als sie das sagte, trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde unsere Blicke, und ich merkte, dass sie nichts lieber wollte, als ihm zu widersprechen. Sie guckte mich an, und ich glaube, ganz kurz hat sie sich gewünscht, ein Teenager zu sein wie ich, der gelangweilt herumstromert und nichts zu tun hat. Wenn die wüsste.

Es wurde Mittag und noch später. Ich hatte schließlich doch noch eine Ein-Pfund-Note in meiner Jackentasche gefunden und war sehr dankbar, dass Teenager bei McDonald‘s nicht gerade ein seltener Anblick waren. Den ganzen Tag war ich ziellos durch London gelaufen, und ich konnte kaum noch denken. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Nach Hause wollte ich nicht. Ich wollte nicht aufgeben, mir nicht eingestehen müssen, dass ich in der Falle saß - und das auch noch mit Leuten, die ich nicht kannte, und in einer Zeit, die nicht meine war. Schwer seufzend fand ich mich schließlich unversehens auf dem Weg nach Waterloo, zu Tashys Büro.

Ich versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es gab nur dieses eine Ich. Ich war ... ein bisschen anders. Aber es war durchaus möglich, dass auch Tashy nicht mehr da war.

Bisher war ich mit all meinen Problemen immer zu Tashy gegangen. Wir hatten zusammen gelacht und jede noch so unwichtige Geschichte, die einer von uns beiden jemals passiert war, miteinander besprochen, und das, solange ich zurückdenken kann. Und Tashy hatte es jedes Mal geschafft, dass ich mich hinterher besser fühlte. Ich war ein Einzelkind, und Heather war eine Hexe, und die Schule war auch kein Zuckerschlecken, also waren wir beide uns näher als Schwestern.

Ich blieb draußen vor dem riesigen Büro stehen und hatte entsetzliche Angst, es könne sie in dieser fremden neuen Welt vielleicht nicht geben, und ich setzte mich auf eine Bank und schaute niedergeschlagen zu, wie die Leute aus dem Gebäude strömten. Sie sahen verfroren aus, müde und geschafft, doch man konnte sehen, wie sie versuchten, für den langen Weg nach Hause im Berufsverkehr die letzten Kräfte zu mobilisieren.

Mein Blick war so verschwommen vor Tränen, Müdigkeit und Angst, dass ich sie zuerst gar nicht bemerkte. Irgendwann fiel mir auf, dass jemand neben mir saß. Langsam drehte ich mich um. Ich konnte es kaum glauben, dass jemand, den ich so gut kannte, hier war. Dabei würde sie mich gar nicht erkennen. Nicht nur das, sie weinte auch noch.

Tashy schniefte geräuschvoll. Ich schaute sie verstohlen aus den Augenwinkeln an. Mein Herz schlug wie eine Marschtrommel. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und mich auf sie zu stürzen und sie mit Küssen zu überschütten.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte ich, was völlig daneben klang. »Ist alles in Ordnung?«

Sie drehte sich um, und ich schwöre bei Gott, sie wäre vor Schreck beinahe von der Bank gefallen.

»O mein Gott«, sagte sie und schnappte nach Luft. Ich sah sie unverwandt an und fühlte mich so elend wie noch nie in meinem Leben.

»Entschuldige bitte, aber du siehst aus wie eine Freundin von mir. Tut mir Leid, das ist echt abgefahren.«

»Wie ist Ihre Freundin denn so?«, fragte ich, und mein Herz raste wie wild.

»Ach, das ist doch vollkommen egal. Du bist viel jünger als sie.«

»Ist... wie heißt sie denn?«

Tashy stand auf und rieb sich die Augen. Sie sah blasser aus als in der letzten Zeit - musste wohl an all den noch folgenden Sonnenbanksitzungen liegen. Ihr schmaler Solitärring funkelte traurig.

»Warum?«

Ich schluckte schwer. »Tashy.«

»Woher weißt du, wie ich heiße?«, fragte sie und wirkte plötzlich ganz verängstigt.

»Bitte ...«, sagte ich. »Flora ...«

»Was geht hier vor?« Sie blickte sich um und umklammerte ihre Handtasche.

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«, quakte ich heiser. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich brachte die Worte kaum heraus.

»Was geht hier vor?« Tashy schaute mich durchdringend an. »Was hast du gemacht? Diese Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend.«

Ich seufzte tief. Ich konnte es nicht fassen, dass jemand mich erkannte. Vielmehr, noch erkannte sie mich nicht, aber bald.

»Also, es wird ein bisschen schwierig, das zu erklären.«

»Seid ihr eine Bande fieser Osteuropäer, die ihre Identität gestohlen haben? Wenn das der Fall ist, dann melde ich das nämlich der Polizei.«

In diesem Augenblick war ich versucht, ihr ihre PIN-Nummer aufzusagen, die ich für Notfälle kannte, aber ich kam zu dem Schluss, es wäre besser, das zu lassen.

»Nein«, sagte ich. »Ich schwöre auf das Leben von Dave Grohl.«

Benommen schüttelte sie den Kopf.

»Tashy, weißt du noch, wie wir uns damals mit vierzehn hoch und heilig geschworen haben, der einzige Mann, mit dem wir vor unserer Hochzeit schlafen würden, wäre Prinz Edward?«

Sie starrte mich an.

»Weißt du noch, als du mit diesem Jungen auf dem Klo eingesperrt wurdest, auf McKaskills Party? Ihr wart gar nicht eingesperrt, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Weißt du noch, als wir den Pfefferminzlikör von deinen Eltern getrunken und über den ganzen Flokati gekotzt haben?«

»Das wollten wir niemandem weitererzählen.«

»Haben wir auch nicht. Und was war damals, als du ...«

»Okay, was? WAS?«

Ihr Gesicht war verzerrt, weil sie so verwirrt und verzweifelt war. Ich holte tief Luft. Sie starrte mich an, Augen und Mund weit aufgerissen.

Ich senkte die Stimme. »Als du vergessen hast, einen gewissen Tampon zu entfernen? Der sich später wiederfand, und zwar an einem gewissen Körperteil eines Mannes ...«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. »O mein Gott. O mein Gott. Du bist es. Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das kann doch ... nicht wahr sein.«

»Wem sagst du das.«

Sie kam zu mir rüber und schaute mir geradewegs ins Gesicht. Ich bemühte mich stillzuhalten.

»Lieber Gott«, sagte sie. »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«

»Du meinst also nicht, ich könnte damit durchkommen, wenn ich allen erzähle, ich hätte mir ein extrem gutes Facelifting machen lassen und immer sehr gesund gelebt?«, fragte ich bedrückt.

»Wer würde dir das schon abkaufen?« Sie starrte mir so eindringlich ins Gesicht, dass ich total nervös wurde, und dann streckte sie auch noch die Hände danach aus. »Mein Gott...«, stammelte sie.

»Wem sagst du das.«

»Was ... was ist passiert?«

»Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Ich habe dich doch noch vor ein paar Tagen gesehen.«

»Nein! Das ist es ja. Ich bin heute Morgen einfach so aufgewacht. Na ja, mit ›heute Morgen‹ meine ich ...« Ich stockte. »Wir brauchen eigentlich dringend einen Drink, wenn ich dir das erzählen soll«, sagte ich. »Hast du Lust, auf einen Sprung ins Atlantic zu gehen?«

Sie kicherte fast. »Und das aus dem Munde eines Teenagers!«

»Was?«

Wir sind immer sehr gerne ins Atlantic gegangen. Es war sauteuer, aber superschön, und wir haben uns immer die Paarungsrituale der räuberischen, dürren englischen Blondinen angeguckt und die Handelsbanker und die europäischen Billigtouristen.

»Tashy, ich bin‘s. Ich ich ich. Können wir jetzt ins Atlantic gehen oder nicht?«

»Na ja, wenn sie dich reinlassen.«

Es gelang uns, mich reinzuschmuggeln, indem ich mir die Schulkrawatte auszog und am Türsteher vorbeihuschte, als der gerade abgelenkt war.

»Das ist ja schrecklich«, sagte Tashy. »Guck mal, wie mir die Hände zittern. Ich fühle mich wie deine böse Tante. Aber das ist schon okay, weil du mir in einer Sekunde« - sie nippte an ihrem Mojito - »sagen wirst, dass du den Quell ewiger Jugend entdeckt hast. Oder ich wache gleich auf.«

»Darauf warte ich schon den ganzen Tag.«

»Bist du aber nicht?«

»Bis jetzt noch nicht.«

Diesmal trank Tashy einen großen Schluck, machte die Augen fünf Sekunden lang fest zu, öffnete sie dann wieder und starrte mich an.

»Okay«, sagte ich. »Das klingt jetzt vielleicht verrückt.«

»Was du nicht sagst.«

»Wir waren bei deiner Hochzeit.«

»Meiner WAS?«

»Nicht so laut, die Leute gucken schon.«

»Meine Hochzeit ist nächsten Monat!«

»Pst. Ja.«

»O mein Gott.« Tashy guckte wie ein gehetztes Tier. »Wie ist sie? Wie ist das Wetter? Wie sehe ich aus? Wie ist das Essen?«

»Ahm«, sagte ich.

»Heulen sie alle? Haben die da einen Springbrunnen? Sieht Max in seinem Anzug gut aus oder eher wie ein Vollidiot?«

»Ähm, Tash, ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte.«

Sie war ganz rot im Gesicht. »Oh. Das ist Bockmist, oder? Ich bin total übergeschnappt. Okay, sag mir eins: Was hast du mit meiner Freundin gemacht?«

»Max hat eine flaschengrüne Weste an«, kläffte ich urplötzlich. »Am Anfang sieht er aus wie ein Vollidiot, aber nachher entspannt er sich und sieht ganz okay aus. Und dein Vera-Wang-Kleid ist umwerfend.«

»Fick die Henne«, sagte Tashy und lehnte sich zurück. »Fick die Henne.«

»Ich bin bloß ... ich meine, das ist alles schon abgefahren genug. Vielleicht solltest du nichts über die Zukunft erfahren oder so.«

»Und was ist mit ...? Ich meine, du musst doch noch andere Dinge wissen, die passieren.« Sie winkte uns noch eine Runde Drinks heran.

»Eigentlich nicht viel«, erwiderte ich. »Irgendwo in Europa wählen sie einen Rechtsaußen-Präsidenten, aber daran können wir wohl nicht viel ändern. Und ich weiß, wer bei Big Brother gewinnt, aber ich bezweifle, dass die Wetten darauf besonders hoch sind.«

»Wenn du aus der Zukunft kommst, müsstest du doch eigentlich älter sein«, sagte sie mürrisch.

Wir saßen da und schwiegen. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Na ja, der Ausbreitung meiner Schamhaare nach zu urteilen etwa sechzehn.«

Tashy trank einen tiefen Schluck. »Scheiße. Ich meine, wie zum Teufel?«

»Weißt du, als du bei deiner Hochzeit den Kuchen angeschnitten hast...«

»Du hast dir doch nicht schon wieder irgendwas Bescheuertes gewünscht?«

Ich nickte bedächtig.

»Und dein Wunsch ist bei meiner Hochzeit in Erfüllung gegangen?«, fragte sie nachdenklich.

Ich nickte. Es entstand eine lange Pause.

»Na ja«, meinte sie schließlich, »wenigstens für eine von uns.« Mir fiel wieder ein, wie sie auf der Bank geschnieft hatte.

»Die Sache ist die«, sagte ich, »die Einzige, die mich erkennt, bist du.«

»O nein«, rief Tashy.

»Was?«

»Vielleicht bist du ja auch nur eine Ausgeburt meiner Fantasie, wie ein rosa Riesenkaninchen.« Sie studierte die astronomische Rechnung, die der Kellner ihr vor die Nase gelegt hatte. »Vielleicht auch nicht. Und was hast du jetzt vor?«

»Weiß der Geier. Mein Job ist jedenfalls futsch.«

»Echt? Ich finde, Flora Scurrison, Teenager-Buchhalterin, klingt doch eigentlich ganz gut.«

»Meine Wohnung auch.«

»Och, deine kleine Wohnung. Das tut mir aber Leid. Hast du schon mit Olly gesprochen?«

»Himmel, nein. Ich bin so erleichtert, dass mich überhaupt jemand erkennt, dass ich noch gar nicht daran gedacht habe.«

»Wow, der wird entzückt sein, so ein verführerisches kleines -«

»Hör auf, so widerliche Sachen zu sagen. Und hör auf, dich so dämlich anzustellen. Wenn ich schon ein verführerischer kleiner Teenie bin, dann mache ich mich an ein Schnuckelchen wie diesen Moderator, Jamie Theakston, ran oder an Gareth Gates oder so.«

»Du machst Witze.« Plötzlich stierte sie mich an.

»Ja, ja, klar.«

Während sie mich so anstarrte, wurde ihr Gesicht immer länger.

»Tash. Tash, was ist los? Was ist denn? Warum hast du da auf der Bank gesessen?«

Sie stieß einen mir nur allzu vertrauten Tashy-Heuler aus. »Ich weiß es nihihicht!«

»Aber doch nicht wegen Max. Sag, dass es nicht wegen Max ist.«

Sie sah mich an, tränenüberströmt, während ich uns noch zwei Mojitos bestellte.

»Vielleicht«, sagte sie rasch, »sind es bloß die Nerven. Ich will eigentlich gar nicht darüber reden.«

»Tut mir Leid«, erwiderte ich. »Ich schwöre dir, ich habe dieses unerklärliche kosmische Phänomen nicht heraufbeschworen, bloß damit du dich über deine Hochzeit aufregst.«

Sie blickte mir lange ins Gesicht. »Ist das ein Riesenpickel, den du da auf deiner Stirn ausbrütest?«, fragte sie. Missmutig rieb ich daran herum. »Versuch nicht, das Thema zu wechseln.«

»Also, was ist los?«

Tashy zuckte die Achseln. »Eigentlich ist es total albern. Aber wenn man jünger ist, denkt man doch immer, hey, ich habe massenweise Freunde, und das wird auch ewig so bleiben. Aber dann wird man älter, und alle arbeiten und sind dauernd beschäftigt und heiraten, und dann ziehen die Leute rudelweise aus London weg und kriegen Kinder, und dann hört man nie wieder was von ihnen. Nie wieder. Als wären sie allesamt von Iltissen gefressen worden. So, und dann wachst du eines Morgens auf und denkst, mein Gott, ich habe ein Problem, wen soll ich bloß anrufen. Und dann musst du einsehen, dass dein Partner, der Mensch, mit dem du vorhattest, den Rest deines Lebens zu verbringen - dass du mit diesem Menschen nicht reden kannst.«

»Aber du kannst doch mit mir reden«, sagte ich sanft.

»Ein Teenager als Busenfreundin«, stöhnte Tashy und rieb heftig an ihrer zerfließenden Wimperntusche herum. Dann beugte sie sich nach vorn. »Wenn du dran bist«, sagte sie und zeigte auf mich, »heirate niemanden, bloß weil er nett zu dir ist und du schon 32 bist.«

»Tashy, ich sehe bloß so jung aus, ich bin nicht zurückgeblieben. Und es gibt Schlimmeres, als einen anständigen Kerl zu heiraten«, entgegnete ich.

»Ich weiß. Oh, ich weiß, was für ein Glückspilz ich bin. Ich weiß. Ich weiß«, sagte sie. Und dann, mit brüchiger Stimme: »Ich weiß nicht, ob ich ihm die nächsten vierzig Jahre dabei zusehen kann, wie er jeden Morgen ein weich gekochtes Ei isst.«

»Jeden Morgen?«

»Er kocht es auf den Punkt. Und dann stößt er immer diesen lächerlichen kleinen Seufzer durch die Zähne aus, als wolle er sagen: ›Ach. Ein Ei. Sehr gut.‹ Dann klopft er ganz vorsichtig die Schale auf und knabbert mit den Zähnen oben am Rand herum. Pfui Teufel. Wie eine kleine Ratte.«

»Hmm. Meinst du, die Bereitschaftspolizei reicht dir, oder muss es gleich ein Sondereinsatzkommando sein?«

»Ja.«

»Tashy, das ist doch gar nichts. Du kriegst bloß kalte Füße, das ist ganz normal vor der Hochzeit. Es heißt doch immer, das erste Jahr einer Ehe sei bei weitem das schlimmste. Beide wollen der Herr im Haus sein, aber wenn das erst mal überstanden ist, läuft alles prima.«

»Ja, so heißt es, aber was man machen soll, wenn man ihm jedes Mal den Schädel einschlagen will, sobald man seine Glatze über den Rand der Tageszeitung blitzen sieht, das sagen sie einem nicht.«

»Sieh mal, ich erinnere mich an dich«, sagte ich. »Du warst so verdammt aufgeregt bei dem Gedanken zu heiraten. Du warst ganz aus dem Häuschen. Max ist bestimmt kein Fehlgriff. Okay, er ist zwar ein ziemlicher Langweiler, aber damit konntest du dich arrangieren, ehrlich.«

Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es bei Tashys ersten Hochzeitsvorbereitungen auch so schlimm gewesen war.

»Ja. Und du warst mit Olly auch viel besser dran. Jetzt haust du wahrscheinlich mit Jamie Theakston ab oder so.« Sie seufzte schwer. »Mit jedem Tag, den man älter wird, hat man weniger Entscheidungsfreiheit. Das ist die wahre Crux am Älterwerden. Die tägliche Verringerung der gebotenen Möglichkeiten.«

Ich stand auf und wollte zur Toilette gehen, aber plötzlich drehte sich alles.

»Mir ist schlecht«, sagte ich.

»Warum?«

»Mist... ich meine, ich bin total hinüber.«

»Du hast doch bloß zweieinhalb Cocktails getrunken.«

»Ohhh, Tashy ...«

»Scheiße. Ich fass es nicht. Du hast das Trinkvermögen eines Teenagers.« Tashy fing an zu lachen.

»Och, komm zu mir, du wundervolle frische Leber ...« Ich fing an zu singen.

»Mist.« Sie stellte ihren Drink ab. Der aalglatte Oberkellner kam an unseren Tisch und gab sich unheimlich höflich, während er uns mit seinen feuchten kleinen Äuglein fixierte. »Gehören Sie zusammen?«

»Wir wollten gerade gehen«, sagte Tashy mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Sie stand auf und schleifte mich hinter sich her.

»Djah-bidde«, sagte ich.

Tashy packte mich am Aufhänger meines Anoraks und dirigierte mich zur Tür.

»Hbbb-nihgnu Gell«, sabberte ich, während ich die Treppe hinaufstolperte, was sie nach langem Nachdenken korrekt als »Ich habe nicht genug Geld für ein Taxi« interpretierte, also stopfte sie mir ein paar Zehner in die Tasche.

»Ruf mich morgen an«, sagte sie. »Keine Sorge, wir lassen uns schon was einfallen.«

»Blargff.«

»Bringen Sie sie nach Hause«, wies sie den Taxifahrer an.

»Kotzt die mir das Auto voll?«

»Nein!«, nuschelte ich. Was ich eigentlich sagen wollte, war: »In meinem wahren Leben wäre es mir nie passiert, dass ich nach zwei Mojitos meiner Muttersprache nicht mehr mächtig bin, aber anscheinend habe ich es hier mit einem völlig anderen Körper zu tun. Das Ganze ist nur ein Missverständnis, das ich mit ein bisschen Übung bestimmt in den Griff bekommen werde.«

»Dann setzen Sie sie rein.« Er schaute Tashy missbilligend an. »Lassen Sie Ihre Schutzbefohlenen nächstes Mal lieber zu Hause.«

Durchs Heckfenster konnte ich sehen, wie Tashy dem davonfahrenden Taxi nachblickte. Danach erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich bei meinen Eltern vor der Haustür wieder aufwachte. Ohne die anderen Fahrzeuge zu bemerken, die dort geparkt waren, stolzierte ich ungelenk und beinahe blind nach drinnen. so übertrieben nonchalant wie alle, die sich nicht anmerken lassen wollen, dass sie betrunken sind. Meine Eltern standen da und starrten mich entgeistert an. Neben ihnen standen unsere nächsten Nachbarn, andere Leute aus unserer Straße und zwei Polizisten.

»O mein Gott!«, kreischte meine Mutter. »O mein Gott!«

Die beiden Polizisten sahen sich an.

»Das«, sagten sie zu meinem Vater, »ist genau der Grund, warum wir erst nach 24 Stunden Vermisstenmeldungen von über 15-Jährigen aufnehmen.«

Aber da stürzte mein Dad sich schon auf mich.

»Wo zum Teufel...? Du dummes, dummes Gänschen ...«

Er zog mich hoch und nahm mich fest in die Arme. So hatte mein Dad mich seit - lieber Gott, seit Ewigkeiten nicht mehr umarmt. Ein gutes Gefühl. Ich schmiegte mich an ihn, atmete seinen vertrauten Geruch nach frisch gebügelten Hemden und Brot ein, so wie er immer gerochen hatte, ehe er uns verließ und dann nach Aftershave und Pflegespülungen duftete, wenn man überhaupt nahe genug an ihn rankam, es zu riechen.

»Herrje. Du stinkst wie die Pest.«

»O mein Gott, ist sie betrunken?«, fragte meine Mutter.

»Eine betrunkene 16-Jährige«, sagte der eine Polizist zum anderen. »Was für ein außergewöhnliches Vorkommnis. Was meinst du, sollen wir losfahren und mal schauen, ob wir am Trafalgar Square ein paar Tauben entdecken können?«

»Vielleicht finden wir ja auch irgendwo im Wald noch einen Bären, der ein bisschen Hilfe bei der Verrichtung seines Geschäfts brauchen kann«, sagte der andere.

»Sie war den ganzen Tag lang weg«, sagte meine Mutter, die sich tränenreich vor den Polizisten zu rechtfertigen versuchte. »Sie war nicht in der Schule. Wenn etwas passiert wäre, hätten Sie bei ihrer Beerdigung ein Gedicht vorlesen müssen und einen Orden des Britischen Empire bekommen.«

»Ja«, sagte einer der Polizisten nachdenklich.

Der andere kam rüber zu mir. »Du bist zu jung, um Alkohol zu trinken.«

»Aber nicht im Restaurant«, sagte ich und schwankte.

»Wer hat dich denn in ein Restaurant mitgenommen?«, fuhr meine Mutter mich an.

»Mach deiner Mutter nicht so viel Sorgen«, riet mir der Polizist. »Verstanden? Sei vorsichtig. Es gibt da draußen eine Menge schlimmer Dinge. Ich weiß, du denkst, du seist erwachsen, aber ich versichere dir, das bist du nicht.«

»Nur in den Augen des Gesetzes«, fügte sein Kollege hinzu. »Oh, nein, vergiss, dass ich das gesagt habe.«

»Hast du denn kein Handy?«, fragte er.

»Doch«, sagte ich und starrte betreten zu Boden. Ich wurde eindeutig schon wieder ein bisschen nüchterner. Ich hatte mein Telefon den ganzen Tag ausgeschaltet gelassen, weil ich eine Höllenangst hatte, jemand, den ich nicht kannte, könne mich anrufen und mich etwas fragen, wovon ich keinen Schimmer hatte.

»Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, deine Eltern anzurufen und ihnen Bescheid zu geben, wo du bist?«

Ahm, nein, natürlich nicht.

»Nein«, sagte ich. »Tut mir Leid.«

»Die Jugend von heute«, sagte der zweite Polizist, der aussah, als wäre er ungefähr zweiundzwanzig. »Total egoistisch.«

»Vergesslich, nicht egoistisch«, widersprach ich. »Es ist nicht leicht, sechzehn zu sein. Man wächst ziemlich viel, müssen Sie wissen. Wobei mir einfällt, ich habe einen Bärenhunger. Gibt es noch irgendwas zu essen?«

»Ha«, schnaubte meine Mutter. »Zu essen! Eine ordentliche Ohrfeige, die hättest du dir verdient.«

»So was solltest du nicht vor einem Polizisten sagen, Mum.«

»Das ist eine ernste Sache, Flora Jane. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie wir uns geängstigt haben? All diese Geschichten? Miss Syzlack hat uns heute Morgen angerufen, als du in der ersten Stunde nicht da warst. Du bist den ganzen Tag nicht in der Schule aufgetaucht. Du schwänzt doch sonst nie.«

Das muss ich doch ganz sicher schon mal gemacht haben. Ich konnte mich nicht mehr erinnern. War ich tatsächlich so ein braves Musterkind gewesen? Kein Wunder, dass keiner uns leiden konnte.

»Deine Mutter ist die ganze Zeit in der Gegend herumgefahren und hat dich gesucht«, sagte mein Dad. »Du hast die gesamte Nachbarschaft in Aufruhr versetzt.«

Ich fühlte mich mies. Die waren echt total außer sich. Die Leute aus der Nachbarschaft saßen im Wohnzimmer und guckten betreten. Was nach einem aufregenden Abend ausgesehen hatte, verwandelte sich vor ihren Augen in einen ganz gewöhnlichen Familienstreit.

»So, jetzt kannst du es mir ja sagen, Schätzchen«, sagte meine Mutter todernst. »Hast du eine Abtreibung machen lassen?«

»Mum! Hier sind neun Leute!«

»Du kannst es uns ruhig sagen, weißt du. Wir sind immer für dich da.«

»Das ist gut zu wissen, aber glaubt mir, wenn ich eine Abtreibung machen lassen müsste, dann würde ich diese Entscheidung erstens alleine treffen, und zweitens würde ich es euch nie im Leben erzählen. Und ganz sicher würde ich hinterher keinen Alkohol trinken. Oder noch aufrecht stehen.«

Eine vollkommene, tödliche Stille legte sich über den Raum.

»Los, Martin. Ahm ... ein Einbrecher!«, sagte der eine Polizist zum anderen, und sie machten sich schnell aus dem Staub, gefolgt vom Rest der Straße.

»Geh auf dein Zimmer«, sagte meine Mutter. »Im Moment mag ich dich nicht mal ansehen.«

Und das sollte meine Mutter sein? Einen grässlichen, entsetzlichen Augenblick lang hätte ich am liebsten gebrüllt: »Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob du mich wieder sehen magst, wenn Dad mit dieser Superschlampe Stephanie durchbrennt und du an der Reihe bist, um Hilfe zu betteln.«Aber sie sah unheimlich verletzlich aus, zum Glück. Sie streckte den Arm aus, als suche sie bei Dad Halt, könne sich aber nicht ganz überwinden.

»Okay«, murmelte ich zerknirscht. »Könnte ich was zum Abendessen bekommen?«

»Du bist im Restaurant gewesen und jetzt willst du was zu essen haben?«

»Ahm, vielleicht sollten wir uns nicht allzu sehr in die Sache mit dem Restaurant verbeißen«, sagte ich. »Nur ein Omelette? Ich mache es mir auch selbst?«

Beide fingen an zu lachen.

»Gott, das ist heute das erste Mal, dass ich was zu lachen habe«, sagte mein Dad, und viel zu spät fiel mir ein, dass ich erst an der Uni kochen gelernt hatte.

»Ich meine ... irgendein Käsesandwich.«

»Wo warst du?«, fragte meine Mutter und stand seufzend auf.

»Jemanden besuchen.«

»Einen Freund oder eine Freundin?«

»Eine Freundin.«

»Wie heißt sie?«

»Tashy.«

Ich beobachtete sie gespannt, in der Hoffnung, sie würden sagen: »Ach so, Tashy«, aber das taten sie nicht. Sie hatten keine Ahnung, wer sie war.

»Und wo hast du die kennen gelernt?«

Ich konnte es nicht erklären. Wie denn auch? Und ich war so unglaublich müde. Ich fragte mich, ob die trotzige Geheimwaffe aller Teenager immer noch funktionierte, weil ich einfach nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

»Wollt ihr ewig mein Leben kontrollieren?«

Mein Dad kam rüber und blieb neben mir stehen. »Wenn du vorhast, dich mit wildfremden Leuten herumzutreiben und dich illegal zu besaufen, junges Fräulein, ja, dann werden wir das wohl müssen.«

»Es war doch nur ein Drink«, erwiderte ich schmollend. »Ich wollte mich bloß vergewissern, dass es ihr gut geht.«

Meine Eltern schauten sich an.

»Tja, wenn du uns nicht erzählen willst, wo du gewesen bist...«

»Das kann ich nicht«, sagte ich. Auf gar keinen Fall würde ich anfangen, ihnen alles zu erzählen. Dann wäre ich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Hatten die denn nicht Durchgeknallt gesehen?

»Schön. Du hast Stubenarrest«, sagte mein Dad.

Was hatte ich? »Ach du lieber Himmel. Stubenarrest? Wo sind wir denn hier, im Jahr 1975?«

»Und morgen bringe ich dich zur Schule, damit du auch ganz sicher hingehst.«

»Ich glaube, wir sind viel zu lax gewesen mit dir«, sagte meine Mutter. »Ich glaube, da liegt das Problem.« Sie schaute mich aufrichtig an. »Wir haben dir vertraut, Flora. Und du hast uns enttäuscht.«

Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie so ein Gesicht machte.

»Ich glaube, du wirst noch einsehen müssen, dass Dad es war, der dich enttäuscht hat«, hätte ich ihr am liebsten entgegengeschleudert, aber ich konnte es nicht. Innerlich kochte ich vor Wut über diese Ungerechtigkeit.

»Wie dem auch sei, hier wird sich einiges ändern«, sagte mein Dad. Leicht panisch schaute ich ihn an. Ich schätzte, ihnen blieb noch ungefähr ein Monat zusammen. Ein Monat. Dann würde sich hier tatsächlich einiges ändern.

Missmutig schlurfte ich nach oben und legte mich ins Bett, ihr Gezänk noch in den Ohren. Ein sehr unwillkommenes Geräusch nach dieser langen Zeit.

Am nächsten Morgen schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Das war der mit Abstand abgefahrenste Traum aller ... nein, Mist, Dreck, Scheiße, verfluchte. Ich lag immer noch unter dieser Karo-Bettdecke, gefangen in meinem absurden Gefängnis, und nur der liebe Gott wusste, warum. Und jetzt, wo ich auch noch Stubenarrest hatte, fühlte ich mich noch mehr wie eine Gefangene. Ich verfluchte mich, weil ich nicht daran gedacht hatte, wie dämlich es war, einfach für zwölf Stunden zu verschwinden. Aber man musste sich erst mal daran gewöhnen, sechzehn zu sein. Ich kniff mir in den Cellulite-freien Oberschenkel, um mich ein bisschen aufzuheitern, aber auch das war kein richtiger Trost. Dann dachte ich an meine herrliche Kaffeemaschine. Es gibt nichts, was mir morgens mehr das Gefühl vermittelt, erwachsen zu sein, als die Kaffeebohnen selbst zu mahlen und dann unter die Dusche zu springen, während der Duft des frischen Kaffees durch die ganze Wohnung zieht. Aber in diesem Haus gab es, wie früher schon, nur Nescafe. Aus unerfindlichen Gründen waren es ausgerechnet diese kleinen Dinge - der Kaffee, mein Kleiderschrank voller schnuckeliger Kostüme und hübscher Schuhe, meine Clarins-Pflegeserie im Badezimmer statt der Mega-Flaschen dieses No-Name-Shampoos aus dem Supermarkt die mir plötzlich mehr fehlten als alles andere. Ich schniefte leise vor mich hin.

»Aufstehen!«, brüllte meine Mutter wieder. »Dein Dad bringt dich zur Schule. Er will wissen, wie‘s deinem ersten Kater geht.«

Ich hörte meinen Vater leise protestieren und stand auf, nervös wie ... na ja, wie ein Kind an seinem ersten Schultag. Nur dass dieser Tag noch wesentlich schlimmer werden würde, weil es ja nicht so war, dass ich niemanden kannte. Meinem Handy nach zu urteilen kannte ich Leute. Ich würde bloß niemanden erkennen und nichts über sie wissen.

Ich versteckte mich unter der Bettdecke.

»Mir ist schlecht!«, rief ich nach unten. Eigentlich ging es mir gut. Ich hatte ganz vergessen, wie schnell man sich von einem Kater erholte, wenn man jung war. Heutzutage dauerte es mindestens zwei Tage, bis ich wieder fit war. Oder hatte es zumindest, als es noch ein »heutzutage« gab.

»Das kommt davon«, rief meine Mutter. Lieber Himmel, war die immer so energisch?

Ich bemühte mich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, während ich meine alte Schuluniform anzog. Und ich weinte bloß ein einziges Mal - beim Kampf mit der Krawatte. Dunkelgrün, Grau, Hellgrün. Ich sah aus wie ein schimmliger Gartenteich. Dazu Spice-Girls-mäßige Slipper, die ich schlicht zum Kotzen fand.

Okay. Ich schluckte schwer. Ich hasste die Schule. Aber das war damals gewesen. Diesmal würde ich alles besser machen. Diesmal würde mich keiner Vogelscheuche nennen, und wenn doch, lieber Gott, ich hatte mich schon mit so vielen Junioranalysten und blöden Praktikanten rumschlagen müssen, dass mir darauf auch noch die passende Antwort einfallen würde. Und dieses Mal würde ich cool, schlagfertig und clever sein, und keiner würde mir was können.

Außerdem wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass ich mich rettungslos in einen der Jungs oder einen meiner Lehrer verknallte, weil das an Kindesmissbrauch grenzen würde, und ganz sicher würde ich mich diesmal wegen meines Aussehens nicht total verrückt machen, weil ich nämlich einen tollen Körper hatte und super aussah. Himmel, ich guckte in den Spiegel, wo war denn dieser Pickel hergekommen? Egal. Und diesmal würde ich auch nicht meine Pickel ausdrücken. Obwohl dieser wirklich sehr verführerisch aussah ...

Und ich würde alles wissen. Ich hatte drei verschiedene Produktionen von Hamlet gesehen, da konnten sie mich also wohl kaum auf dem falschen Fuß erwischen, und alles, was mit Rechnen zu tun hatte, sollte eigentlich auch ein Kinderspiel sein, mit meinem guten alten BWL-Diplom im Rücken. Ich würde den Ball flach und den Mund geschlossen halten, und in einem Monat würde ich zu Tashys Hochzeit gehen und, na ja, und ...

»Flora!«

Ich war nicht nervös. War ich nicht.

Scheiße.

Mein Dad wirkte im Auto ein bisschen geistesabwesend.

»Ich kann dich heute Abend nicht abholen«, erklärte er. »Sag das deiner Mutter.«

»Wo willst du denn hin?«, fragte ich, gleich misstrauisch geworden. Meine Mutter hatte darüber gesprochen, dass er im letzten Jahr immer so spät nach Hause gekommen war. Weil ich damals aber so mit mir selbst beschäftigt gewesen war, war mir das gar nicht aufgefallen.

»Nur ein bisschen raus, Schätzchen«, erwiderte er und schien erstaunt, dass ich danach fragte.

»Wohin?«

»Nirgendwohin, wo du mitkommen kannst, so viel steht schon mal fest.«

»Dad«, sagte ich, »du solltest dich ein bisschen um Mum kümmern, okay? Sie fühlt sich im Moment nicht so gut.«

Ich sah ihn leicht erröten und sich ans Lenkrad klammern.

»Mach dir keine Sorgen um deine Mutter und mich«, sagte er.

»Das lässt sich leider nicht vermeiden, Dad«, erwiderte ich. »Weißt du, irgendwann in den nächsten Jahren verlasse ich das Nest, und das ist eine wirklich gefährliche Zeit für viele Ehen.«

Er sah mich an, als sei ich ein Wechselbalg. »Was zum Kuckuck weißt du denn schon davon?«

»Nichts«, entgegnete ich. »Aber ich habe viel darüber gelesen.«

Ungläubig legte er die Stirn in Falten. »Ach so. Okay. Tja, warum konzentrierst du dich nicht einfach auf deine Noten?«

Mir blieb fast das Herz stehen. Wie alt war ich? Ich hatte doch bestimmt bloß die Kurse belegt, wo man schon Punkte dafür bekam, wenn man seinen eigenen Namen richtig schrieb.

Kacke, wurde mir klar. Es war September. Die Schule hatte wieder angefangen. Zehntes Schuljahr. Mist, verfluchter.

Ganz ruhig, ganz ruhig. Atmen. Hatten sie die Tests inzwischen nicht babyleicht gemacht, damit die Regierung so tun konnte, als würden sie auch noch aus dem letzten Vollidioten eine Leuchte machen?

Herr im Himmel. Von allen Jahren, die ich mir hätte aussuchen können, musste ich ausgerechnet mein sechzehntes nehmen.